4. Fall

Ein 56-jährige Zahnarzt hatte zweieinhalb Wochen vor der MR-Untersuchung eine sehr stramme Wanderung gemacht. Er hatte sich viel vorgenommen, mußte wegen Regen umkehren und verlor am Ende noch den Weg. Es summierten sich also mehrere Faktoren, die zu einer ungewöhnlichen Belastung führten. Wenige Stunden nach der Rückkehr verspürte er heftige Schmerzen im distalen Unterschenkel.

Die Weichteilschwellung und Überwärmung machten sogar seinen Arzt ratlos. Mit normalem Röntgenbild - unter der Fragestellung "Monarthritis? Tumor?"- stellt er sich zur MR-Untersuchung vor. Die Blindheit für die Annamnese ist bemerkenswert.

Im Bild rechts wird die STIR gezeigt:

Man erwartet in diesem Alter (und peripher im Skelett) überwiegend Fettgewebe im Markraum. In der STIR sollte der Knochen ganz dunkel sein. Aber die distale Tibia leuchtet hell auf. Dieses pathologisch helle Bildsignal läßt sich noch genauer beschreiben:

Es fallen mindestens drei Besonderheiten auf:

1. Der Talus ist nicht betroffen; auch nicht die Tibiaabschnitte, die dem Gelenk am nächsten sind. Bei Arthritis jeglicher Form hätte man in der STIR zu beiden Seiten des Gelenkspaltes "helles Signal" (=Ödem) erwartet.

2. Schräg durch die distale Tibia zieht sich eine besonders helle Linie; hier muss besonders viel "Wasser" (oder "Blut") vorliegen

3. Auch die Weichteile - sonst in der STIR dunkel - sind intensiv hell; pathologisch gesehen also massiv ödematös.

In der T1 (rechts) ist das (T1-typische) helle Fettsignal entlang einer schräg verlaufenden Linie abgeschwächt.

Links im Bild (T1 nach Kontrastmittel) haben wir ein Bild der Kontrastmittelverteilung im Körper. Es bestätigt sich eine Hyperämie (und vermehrter Stoffwechsel) in den Weichteilen, jedoch ohne die synoviale Proliferation, wie sie bei Arthritis typisch ist. In der distalen Tibia sieht man eine unregelmäßige, streifig-fleckige Anreicherung. Die oben genannte Linie in der T1 nativ (= vor Kontrastmittel) ist jetzt intensiv hell; sie reichert also das Kontrastmittel stark an. In diesem Bereich besteht offenbar ein "aufgeheizter" Stoffwechsel durch einen reparativen Vorgang.

Es handelt sich um einen klassischen Überlastungsschaden, eine

Stressfraktur der distalen Tibia.

Wegen der Form des Stresses kann man von einer "Marschfraktur" sprechen. Bemerkenswert ist, daß die "Frakturlinie" selber in den einzelnen Sequenzen nicht einheitlich zur Darstellung kommt: Oft tritt eine Auslöschung des Signals durch nekrotisches Gewebe auf. Aber auch intensive Signale durch Blut (Methämoglobin ) oder durch Reparationsvorgänge kommen vor.

Nachdem der zuerst ungläubige und dann angenehm überraschte Patient von der Art seiner Erkrankung überzeugt werden konnte, hat er sich konsequent geschont. Nach wenigen Tagen hat er wieder in seinem Beruf als Zahnarzt gearbeitet und war nach 14 Tagen beschwerdefrei. Erst zu diesem Zeitpunkt war die Weichteilschwellung verschwunden.

Bemerkenswert ist die Verkennung des zeitlichen Zusammenhang von Beschwerden und der vorangegangenen Überlastung. Es wurde verkannt, daß der Knochen Zeit braucht, um zu reagieren (und auch um zu heilen). Es wurde verkannt, daß sich der Überlastungsschaden auch an den Weichteilen manifestiert.