Wurzeln der Jakobswege in West- und Mitteleuropa.
Jetzt können wir die Karte gebrauchen: Wie ist man von (z.B.) Würzburg nach Santiago gelangt? Wo musste man sich entscheiden? Irgendwie ging es erstmal nach O s t a b a t. Dort laufen die meisten der großen französischen Routen zusammen.
3. Pilgerwege, die in den Jakobsweg einmünden
Die Pilgerstraßen waren ein festes Raster im geographischen Verständnis alter Zeiten. Die Steckenführung erscheint uns heute oft unsinnig, da viel zu lang. Heutzutage haben wir auch bestimmte Vorstellungen im Kopf, die sich an Bahnstrecken und Autobahnen orientieren und auch selten direkt verlaufen.
Die Wurzeln dieser großen Pilgerstraße sind ein eigenes Kapitel wert.
Dort in Ostabat/Hastinguez vor Bayonne treffen und trafen sich mindestens drei wichtige Jakobswege – oder soll man sagen – Wurzeln des Jakobsweges.
Es lohnt sich, als vereinfachende Regel zu merken:
Ostabat = Hastinguez = Saint Jean Pied de Port. Letzteres wird gerne zitiert als Anfang des französischen Jakobsweges (Camino Francés). Daher sagen manche, Saint. Jean sei der wichtige Knotenpunkt.
Man muss sich immer vor Augen halten: Wege waren Moden. Von der Obrigkeit wurde Einfluss genommen. Die große politische Idee, die ich im Kapitel "Santiago" zu beschreiben versuche, wurde gefördert. Aber niemand konnte den frommen Pilger auf einen ganz bestimmten Weg zwingen. Es gab beliebte Wege, die eingeschliffen, tradiert, beschrieben und besungen waren.
Tatsächlich haben viele Umstände zu Gewohnheiten geführt und ganz viele Pilger auf ganz wenige Wege konzentriert. Das gehört zum Jakobs-Phänomen. Eine Anpassung, die nicht als Zwang, sondern als Gefühl der Gemeinsamkeit und Sicherheit empfunden wurde (und wird). Das gilt wahrscheinlich für manchen bekannten Ort am Jakobsweg: Es war eine Last, aber auch eine wirtschaftliche Chance. Von Estella zum Beispiel ist bekannt, dass die Stadt für den Jakobsweg gegründet wurde und sich auch "amortisiert" hat. Sicherlich haben auch die Schankwirte eingegriffen und die (traditionell gelben) Pfeile so geändert, dass die Besucher den Weg zu ihnen gefunden haben.
Also die Weg-Findung war sehr lebendig, durch viele Faktoren beeinflusst, und trotzdem ganz erstaunlich konservativ.
Eine dieser massiven Einflussnahmen durch die Obrigkeit war die Förderung des Camino Francés gegenüber dem älteren Camino del Norte (letzterer ist der küstennahe, er ist mein Thema!). Der französische geht dagegen südlich und gilt (zu Unrecht) als der Weg der Wege schlechthin. Damit die Camino-Francés-Fans Ruhe geben, zähle ich einige Stationen auf. Dann will ich aber nichts mehr hören. Von Ostabat ging es nach Saint Jean Pied de Port. Über den happigen Pass nach Spanien, Pamplona, Estella (wo die Brüder und Schwestern aus Toulouse dazukamen), Logroño, Burgos, Leon, Astorga, Ponferrada, Sarría, Melinde, erst dort wird der alte Camino Primitivo für den Endspurt genutzt und dort ist ein ebenso schöner Meeting Point wie in Ostabat!
Später schildere ich den Ur-Jakobsweg, den Camino Primitivo, der das Pilgern zu Heiligen Jago überhaupt ins Rollen brachte.
Nach den Anfängen dehnte sich das Jago-Pilgern über ganz Europa aus, und es entstanden verschiedene Zuströme. Die Wege erscheinen uns heutzutage recht seltsam. Sie standen unter anderen Zwängen als die, unter denen wir heute stehen.
Damals für den Pilger waren es die 21 Großen H.
21 Großen H
einzuprägen:
Hut, Halteplatz, Hafen,
Hunger, Hitze, Hagel, Herbergen, Hospitality, Heuboden, Haus,
Hospitäler, Hilfe, Hartgeld,
Hunde, Halunken, Halsabschneider
Heiligtümer, Heiliger Geist, Himmel, Hölle,
Hängebrücken.
(Es wäre reizvoll, die Jakobswege anhand ihrer Brücken zu analysieren: Römerbrücke Mérida, Brücke in Leon, vor Pamplona in Polada, Puente de la Reina, Puente de Órbigo fallen mir spontan ein. Auch die Brücke von Salamanca ist berühmt.
Ebenfalls wäre interessant, die Hospitäler am Jakobsweg zu studieren. Von Würzburg weiß ich, dass das Juliusspital gemäß Stifterwillen den Pilgern offen stand.)
Die Wurzeln der spanischen Jakobswege sind zwei kleinere und ein mächtig großer.
Der größte Strom traf schon in Ostabat zusammen.
o Er hatte drei Wurzeln:
o Paris,
o Vézelay und
o Le Puy
o Könnt ihr euch vorstellen, wie es da zuging? Man ging zusammen über die Berge, durch Pamplona und Burgos.
Zwischen beiden genannten durfte man sich auf Gesellschaft aus Toulouse (und Mitteleuropa) freuen. Das klingt kompliziert. Man kommt schnell rein, und in alten Zeiten war es fest in die Vorstellung eingebrannt.
Die kleinen sind der Atlantikküsten-Weg und der über das Rhônetal, Carcassonne, Toulouse. Letztere hatten ihre eigenen Pyrenäen-Traversen.
Sieht man die Karten der mittelalterlichen Pilgerwege, erscheinen uns die Vorstellungen ziemlich wirr. Wir sollten nicht über die skurrile Wegfindung der Pilger von gestern lachen.
Die Logik der heutigen Streckenführung ist auch nicht frei von Erwägungen: Gibt es da eine Autobahn, ist der Treibstoff günstig, habe ich schon ein "Bickerl". Politische Grenzen spielen auch heutzutage immer noch eine Rolle.
Hilfreich für die Einfühlung in das System der Pilgerwege erscheint mir folgende Kategorisierung wichtiger Orte:
A. Orte, wo Pilgerwege zusammenmünden (Lumpensammler)
An diesen Orten verstärkte sich die Zahl der Pilger.
Es sind Plätze des Informationsaustausches, der geistigen Erbauung, der erhofften Mildtätigkeit, der Hospitäler! Für einige Wanderer war es der Endpunkt der irdischen Pilgerfahrt.
Arles und Avignon sind die großen Einsammler: Italiener, Schweizer, der gesamte mitteleuropäische Raum. (Die von mir beschriebene Route europäische Mittelmeerküste "Ligurien" und "Frankreich" folgt weitgehend einem solchen "Zustrom" des Jakobsweges.)
Ostabat ist die klassische Sammelstelle schlechthin, sie zieht aber merkwürdigerweise kaum Pilger von der Atlantikküste herüber, auch die Pilger aus Carcassonne und ein Teil derer aus Toulouse waren schon vorher über die Berge gegangen.
Astorga auf den Camino Francés nimmt Pilger aus Salamanco/Toledo/Sevilla auf. Das ist der Camino de la Plata, teilweise identisch mit dem Mozarabischen Pilgerweg. (Mozaraber sind die christlichen Spanier, die unter maurischer Herrschaft lebten.)
Burgos nimmt Pilger aus dem Südosten aus Katalanien auf, außerdem mündet hier eine der wenigen Querverbindungen vom Camino del Norte – über Donostia – zum Camino Francés).
B. Orte, wo Pilgerwege aufzweigen (Verteiler)
Das erscheint besonders widersinnig, denn "einer von mehreren" Wegen dürfte wohl der beste gewesen sein. Der Pilger war sich offenbar nicht so sicher, er setzte die Prioritäten, die wir nicht mehr so leicht verstehen: Die eine Alternative war kürzer, die andere billiger, sicherer, schöner, die Reisegefährten waren angenehmer, die Sprache verständlicher. Nicht zuletzt war mancher Weg überlastet und daher eine andere Lösung angeraten.
Trier ist ein überraschender, aber ganz wichtiger Verteiler: einmal Luxemburg/Vezélay, zum anderen Metz/Nancy/Dijon/Lyon. Diese beiden Gruppen werden sich erst in Pamplona wiedersehen!
Lyon, dort kann man sich entscheiden: entweder
Ostabat, via Le Pui oder
Montpellier/Toulouse.
Man wird sich erst in Pamplona wiedersehen. Diese Lyon-Entscheidung kann man auch bereits in Genf treffen, sie geht alle aus den südlichen deutschen Landen an.
Montpellier ist ein solcher Verteiler. Es geht nach Toulouse oder nach Carcassonne, die jeweils auf unterschiedlichen Wegen die Berge überqueren. Ein Nebenweg schließt auch Richtung Ostabat auf.
Das Merkwürdige ist: Es gab Wege, auffällig wenig genutzt, ja die verpönt waren. Uns ist das geographisch unverständlich. Hier spielte offenbar Unsicherheit eine Rolle bzw. das Fehlen aller angenehmen Dinge, Heiligtümer, Herbergen, Hospitäler ...
Beispiele: Ribadeo – Ferrol/A Coruña.
Letztere Häfen spielten nur eine Rolle für von See kommende Pilger, aber kaum für Durchwanderer.
Nantes ist eine solche Sammelstelle verschiedener Wege, die die Pilger gleich wieder auf verschiedene Routen verteilt. Alle diese sammeln sich gleich wieder in Paris, um nach Orléans weiterzuziehen.
Paris ist überhaupt der Klassiker eines gleichzeitigen Sammlers und Verteilers. Gemeinsam strömen verschiedene Wege auf Ostabat zu.
Köln sammelt mehrere Ströme ein und verteilt sie wieder auf verschiedenen Wegen:
Hauptweg nach Trier, Nebenwege nach Aachen, aber auch den Rhein aufwärts nach Koblenz und weiter nach Basel.
Würzburg ist ein Beispiel für mehrere zusammenlaufende Wege, die unterschiedlich kanalisiert werden. Eingesammelt wird von Bamberg, Erfurt und Nürnberg. Nach der Regenerierung, nötigenfalls im Juliusspital, geht es weiter hauptsächlich Richtung Stuttgart/Tübingen/Basel. Der Nebenweg führt nach Ulm oder aber
Speyer, das schießt an Vezélay/Tal des Rhône an.
Nürnberg gehört in diese Kategorie
Ulm ist ein Verteiler: Hauptstrom nach Konstanz, Nebenströme nach Tübingen oder aber nach Lichtenstein und – sehr anspruchsvoll – über die Alpen.
Wie wäre man früher von meinem Wohnort Würzburg nach Santiago gepilgert? Wahrscheinlich über Tübingen, Basel, Genf, Lyon, Le Puy, Ostabat.
Heutzutage gäbe es Abweichungen abhängig vom Verkehrsmittel. Auf Rädern bevorzuge ich das Rhônetal und meide das Massif Central. Es sei denn, eine neuere Autobahnstrecke kehrt mein Konzept um.