Wir suchen nach einem Quartier. Mit den Pilgern sind auch die gewöhnlichen Touristen ausgeblieben und es gibt vergleichsweise wenig Unterkünfte. Am Fluss Niño finden wir ein Bad, ein Balinero mit römischen Fundamenten und Traditionen. In den dunklen Gängen entdecken wir in Sesseln zahlreiche Rentner. Spanier können auch schweigsam sein und sich trotzdem freuen, begrüßt zu werden. Ein schöner Ausblick über den Fluss (er wird später zur Grenze zwischen Spanien und Portugal). Moni entdeckt auf der anderen Seite ein Gasthaus. Unsere Sprachkenntnis hat sich soweit gebessert, dass wir klarmachen, gerne zu warten. Gegen einen Wein hätten wir auch nichts einzuwenden. Wir bekommen sogar einen Snack spendiert und von einer Gästin den Wein. Erst um halb 10 füllt sich der Saal. Vor allem die Kinder sind offenbar vorher nicht fertig.
Die Autostraße von Lugo nach Santiago ist die 540. Es hat 5 °C Temperatur und auf den Dächern liegt dicker Reif. Erst nach 20 km, in Guntin de Pallares, kommen die ersten Pilger des französischen Weges von Westen, von St. Román, herüber. Zuerst ein Fluss, dann ein ziemlicher Anstieg. Reste von Schnee am Rand der Fahrbahn, ein Räumfahrzeug ist vorbeigekommen. Die Pilger werden mit jeder der Stationen mehr: Vilar de Donas, Palas de Rei, Orosa, Tal des Rio secco, viele Kirchen in Sichtweite. Schließlich bekommt der Pilgerstrom in Melinde weiteren Zuwachs. In Burres haben wir schon 30 Wanderer im Blickfeld. Sie haben sich bei den Brüdern vom Camino del Norte der Richtigkeit ihres Vorhabens versichert und umgekehrt auch diese ermuntert.
Es braucht also schon eine sehr gute innere und äußere Organisation. Die Pilgerfahrt ist der Großtest für regendichte Kleidung. Und für die Gesundheit. Der Pilgerweg ist das Eldorado für Überlastungsschäden (siehe mein Beitrag: Überlastungsschäden an Knochen und Gelenken).
Wenn das schief geht, ist der Pilger raus. Ich kann mir vorstellen, erfolgreiche Jakobspilger sind gute Mitarbeiter.
Ich habe schon angedeutet, was passiert, wenn sich vor den durchgefrorenen und genässten Pilgern das Weichbild von Santiago de Compostela auftut. Szenen der Verbrüderung zwischen Serben und Kroaten, zwischen Nordiren beiderlei Konfession, natürlich auch zwischen Brüdern und Schwestern. Und mancher macht auch im Angesicht Jagos Frieden mit sich selbst. Er glaubt zu spüren, dass der auf ihn gewartet hat, der, den er fest zu finden glaubte.
36 Klöster, 46 Kirchen, weit über 100 Türme.
Die Legende ist durchschaubar. Der Wunsch war der Vater des Gedankens, die Hoffnung die Wurzel der Illusion. Entscheidend war die politische Wirkung.
Der Rundgang in Santiago de Compostela beginnt auf der Plaza d’España, auch Plaza mayor genannt, vor dem Westchor der Kathedrale. Auf der Südseite steht das Kolleg des heiligen Jeronimo und das Kolleg de Fonseca, auf der Westseite befindet sich das heutige Rathaus, dahinter die kleine Kirche San Fructoso, dieser Heilige ist uns schon mehrfach begegnet. Auf der Nordseite das Spital der katholischen Könige, heute ein Parador, und zwar der Renomier-Parador schlechthin.
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Die Kathedrale selbst ist ursprünglich ein frühromanischer Bau, sie wurde in der Renaissance stark erweitert, die Westtürme erst im Barock vollendet. Die Fassade entstand erst in den Jahren um 1740. Sie überdeckt den Portico de la Gloria – das ist der Zugang vom großen Platz aus, von der westlichen Vorhalle ins Kirchenschiff. Dieser berühmteste Zugang wurde vom Meister Mattheo geschaffen. Er ist jetzt auch noch wegen einer Renovierung eingepackt, wird aber in ausführlichen Videodokumentationen besprochen. Dieser geniale Mattheo ist der Schöpfer vieler weiterer Plastiken rund um die Kirche. Es gibt die Kapelle der Reliquien, die prächtige königliche Kapelle im isabellinischem Stil, den spätgotischen Kreuzgang und viele weitere Kunstschätze.
An der Ostseite der Kathedrale findet man den Palast des Erzbischofs, Palazzo Gelmirez. Zwischen diesem und der Kathedrale geht es hindurch zum Priesterseminar.
Der heilige Apostel soll in Jerusalem den Märtyrertod erlitten haben, seine Gebeine wurden dorthin zurückgebracht, wo er, der Heilige zu Lebzeiten, mit bescheidenem Erfolg wirkte. Die Legende war so schön, dass der nächste Erzähler eines draufsetzte. Aber er hatte nicht mit dem übernächsten und allen weiteren Erzählern gerechnet. In der gläubigen Gemeinde fand sich eine anfängliche Minderheit, die eine noch unglaublichere Variante aufbrachte. Da ist der Sarg des Jago ohne Steuermann nach Spanien gesegelt. Gibraltar war kein Problem. Auch fand das unheimliche Gefährt den Weg flussaufwärts auf dem Strome Ulla. Der wundersame Ratschluss hatte fleißige Helfer bereitgestellt, die beim Auslagern und Begraben zur Hand waren.
Die geheimnisvolle Überführung geriet in Vergessenheit und blieb es Jahrhunderte lang.
Da erschien in einem Augenblick, der nicht besser hätte passen können, ein Stern über einem Feld: Campus Stellae, das Feld des Sternes, Compostela. Der Stern verwies auf die vergessene Reliquie, die Gebeine des heiligen Jago. Die faszinierende Neuigkeit gedieh und zeigte üppige Blüten. Der Apostel erschien nach einer weiteren Legende auch dem König Ramiro I. vor einer Schlacht und hatte so gar nicht die Nomenklatur seines Bruders und Meisters Jesus drauf. Er ermunterte Ramiro, die heilige spanische Erde zu verteidigen. Später bekam Ramiro den Namen Ramiro Matamoros, der Maurentöter. So wurde Jakob zum Vorreiter der Wiedereroberung der iberischen Halbinsel.
955 bekam Santiago sein Name schlecht. Es wurde von den Mauren völlig zerstört. Diese Praxis war wechselseitig im Schwange. Alfons II. mit seinen Vernichtungszügen nach Süden habe ich schon zitiert. Erst im Anschluss an 955, an diese Demütigung der heiligen Apostel und Märtyrer, entstand (langsam) die Gewohnheit der Pilgerfahrt nach Spanien. Es bestand damals ein akuter Mangel an Wallfahrten, da die nach Jerusalem unmöglich geworden war. Man wollte in ganz Europa diese "Christenbrüder im Würgegriff der Mohren" unterstützen. Die, fast von ihrer Halbinsel Verdrängten, sollten wenigstens moralisch unterstützt werden. Auch ein paar Devisen sollten fließen. Die Muschel diente als Erkennungszeichen und als Trinkschale.
Es war gewissermaßen eine ganz frühe und recht erfolgreiche gesamteuropäische Bewegung. Und diese Bewegung wurde von kleinen Leuten getragen, jeder einzelne fromme Pilger trug etwas bei und bewies damit die "Macht der Vielen". Es war gewissermaßen eine demokratische Bewegung.
Es war auch gelebte Nächstenliebe, Herschenken, was man nicht unbedingt braucht, teilen, helfen.
Die Behauptungen im letzten Absatz stammen von mir. Wo viele Beobachter nur ein historisches Kuriosum und negative Phänomene konstatieren, will ich einen durchaus respektablen Kern anerkennen. Natürlich will ich auch provozieren und zum Widerspruch herausfordern.
Diese Hypothesen erklären jedenfalls sehr gut, dass das Jakobspilgertum nicht allen gefiel. Manchen Mächtigen war es gar nicht Recht, dass die vielen kleinen Leute ihre Macht erkannten. Manche fürchteten um ihre Souveränität, wenn eine Bewegung so grenzübergreifend tätig wurde.
Es gab nicht nur neidische Kritik, sondern auch sehr berechtigte. Raimund Joos macht darauf aufmerksam, dass das Jakobspilgertum nicht nur von edlen persönlichen Motiven bestimmt wurde. Es gab auch unselige Verquickungen von Gewalt, Zwang, Kommerz und Religion. Es wurde nicht versäumt, die Pilger in Angst und Schrecken zu versetzen. Davon zeugen Bildnisse entlang des Pilgerweges, die vor Höllenqualen warnen.
Nachdem endlich (1492) – nach Jahrhunderten der Wiedereroberung – die letzte Bastion, Granada, gefallen war, hatten die Heerscharen der frommen Pilger (nach Ansicht gewisser Herrscherhäuser) ausgedient, es gab sich rasch vermehrende Kritik an diesem Pilgerwesen: Allerlei Gesindel sei ins Land gekommen und auch unter den Ansässigen sei ein gewisses Piratentum entstanden. Offenbar gab es auch religiöse Argumente gegen diese Pilgerfahrt. Religiöse Argumente sind immer leicht zu produzieren. Die Pilgerfahrt wurde eingestellt. Die Reliquien wurden aus Furcht vor Überfällen (der Engländer) versteckt und gerieten ebenso wie die Legenden in Vergessenheit. Das Sicherstellen und Verstecken von Reliquien ist ein ganz wichtiges Thema rund um das europäische Mittelmeer. San Fruttoso in Ligurien ist so ein Beispiel für die Sicherstellung von spanischen Reliquien im "Ausland".
Man gewöhnte sich daran, Jago schlicht in Ehren zu halten, als einen Freund aller Menschen, als einen Bruder des Herren.
Erst 1879 war die Zeit reif für eine religiöse Sensation. Der Pabst hatte mit dem Verlust des Kirchenstaates bittere Pillen zu schlucken, und die Kirche war schwer verunsichert. Eine orthodoxe Minderheit wurde aktiv. Es gab ein Bedürfnis an einer Erweckung, und wir durften die Wiederentdeckung der ehrwürdigen Gebeine des Jago miterleben. Das Pilgerwesen hat seither wieder an Attraktion gewonnen Es gab weniger politische Gründe. Es gab eine Fülle menschlicher Motive, zu pilgern: eine gewisse Abenteuerlust, die Liebe zu Spanien, Gesundheitsbewusstsein ... Unser Bericht liegt voll im (nicht mehr frischen) Trend und lässt sich anstecken, die Fülle der Reisenotizen zu vergrößern.
Der Großteil der heutigen Pilger kann die alten Legenden nicht für bare Münze nehmen. Machen wir uns aber nichts vor. Einige pietistische Gruppen sind Trittbrettfahrer: Verehrung von Padre Pio, Fatima und Lourdes, allerhand Wundergeschehnisse in Polen etc. Sie drängen sich in den Dom von Santiago hinein. Hier werden die kitschigsten Jesusfiguren aufgestellt, als sei er ein arbeitsscheuer, neurotischer Langhaardackel gewesen. Das ist gar nicht der Jesus, der dem Wein zusprechen und eine Aufstand anzetteln konnte.
Auf dem Monte do Gozo (man kann auch del Gozo sagen?) ist Platz für eine große Zahl von Pilgern.
Unser Quartier haben wir ganz nahe an diesem "Berg der Freude", also auch außerhalb der Stadt. Wir hätten es mit dieser Information leichter finden können. Es ist ein uralter Gutshof mit klassischem Hógar, dem mäusesicheren Trockenspeicher. Wir schlafen sehr angenehm im ehemaligen Pferdestall. In die Stadt kommt man leicht und preiswert mit dem Bus.
Der Dauerregen verwundert die Einheimischen gar nicht, uns aber zwingt er sanft zum Besuch zahlloser Kirchen, zum Verharren im Gebet und zum Studium von mindestens vier Museen.
Pilgermuseum: Es zeigt die Vielfalt der Wunder und lässt erahnen, wie St. Jago für die Zwecke des großen Abwehrkampfes entdeckt und eingespannt wurde. 8000 Berichte über den Jakobsweg sind verzeichnet! Am meisten gefällt mir eine wunderbar aquarellierte Mappe eines Japaners.
Kunstmuseum: gute Exponate, viele Ideen auch in Form von Filmen.
Diözesanmuseum im Domkomplex mit vielen bekannten Ausstellungsstücken: das "weltgrößte" Weihrauchfass, das zu besonderen Anlässen im Dom von der Decke hängend geschwungen wird. Weihrauch sei bei der Fülle von verschwitzten Pilgern nötig gewesen, sagt man. – Die mächtige gesprungene Glocke. – Gobelins nach Rubens und Goya,
Ausstellung über den Meister Mattheo und sein plastisches Werk.