Als Weihnachtsgeschenk stellte unser Arzt gemeinsam mit einer russischen Ärztekommission dann fest, dass ich an Typhus erkrankt sei. Ich wurde isoliert von allen gelegt und fieberte nun einsam vor mich hin. Quasi in einem Dämmerzustand, wurde ich auf einen Lkw geladen, eingepackt in einen Berg von Decken und zum Güterbahnhof gebracht. Dort standen ein kleiner Zug mit Personenwagen für das Begleitpersonal und drei Güterwagen für den Krankentransport. Innenausstattung: dickes Strohpolster mit Decken, im Mittelraum ein Kanonenofen und ein Lagerplatz für zwei Sanitäter. Diese sorgten mit reichlich Holz für Wärme und kochten für uns Kranke roten Tee. Sie entsorgten mit Bettpfannen über einen Blechtrichter im Wagenboden alles, was wir unter uns gelassen hatten. Ich erlebte in meinem Zustand den ganzen Krankentransport wie einen Film. Drei Tage dauerte diese Fahrt – es ging nordwärts nach URIOPINSK. Immer frühmorgens hielt der Zug auf freier Strecke. Dann wurden die Waggons gereinigt, die in der Nacht Verstorbenen wurden ausgeladen und am Bahndamm im tiefen Schnee begraben. Von meiner Wagenbesatzung – ursprünglich acht Mann, waren es zwei – niemand kennt die Namen. In URIOPINSK kamen wir in ein Spital-Hospital.

Mit drei anderen Typhuskranken kam ich zunächst in einen abgegrenzten Raum. Ich weiß nicht, wieviel Tage ich dort dahindämmerte – zwischen Fieber Traum, Kopfschmerzen, Durchfällen und großem Durst. Ich weiß auch nicht mehr, wer uns behandelt hat und womit. Einer von uns vier Kandidaten hat es nicht überlebt. Irgendwann im Januar 46 wurde ich von der Isolierstation „Typhus“ in die Isolier-Station „Lunge“ verlegt; vermutlich hatte ich mir beim Transport von Stalingrad nach URIOPINSK auch noch eine Lungenentzündung eingehandelt. Die neue Station war im Obergeschoss – ein Raum mit etwa 10 × 6 m, einer Fensterfront (Fenster nicht zu öffnen, weil nur aus Scherben zusammengekittet) und deshalb hell, etwa 3 m hoch. In einer Ecke ein riesiger Ofen für Feuerung mit Torfbriketts. – In diesem „Saal“ waren meist 56 Kranke untergebracht, und zwar in drei zusammengeschobenen (Eisen-) Betten, sieben Mann oder je zwei Mann im Einzelbett. Die Betten hatten Strohsäcke und weiße Bettlaken, überzogene Kopfkissen und dünne Leinendecken – die Wäsche wurde alle 2-3 Wochen gewechselt, es war also ein echtes Hospital. Jeder Kranke hatte unter dem Bett drei Konservendosen (eine 1 kg- Dose für große (nicht dünnflüssige) Geschäfte, ein ½ kg- Dose zum Pinkeln und eine Konservendose zum Spucken. Die beiden ersten wurden von den deutschen Hilfssanitätern entleert, die kleinere ab und zu für mikroskopische Untersuchungen des Sputums von Laboranten abgeholt – in diesem „Lungen-Isolator“ lagen zumeist Tuberkulosekranke; ich gehörte dann wohl auch dazu. – Wer irgendwie noch krabbeln konnte, musste sich täglich waschen. Zu diesem Zweck wurde ein großer, ehemaliger Marmeladeneimer mit frischem, kaltem Wasser gebracht. Für die ersten zehn ging das noch, aber zum Ende hin befand sich im Eimer nun doch eine graue Pampe. Vermutlich eine hervorragend geeignete Quelle zu Verbreitung von gefährlichen Krankheitskeimen. Handtücher, Zahnbürsten und ähnliche Luxusgüter gab es nicht. – Für die Notdurft von 56 Mann standen zwei Steinzeug-Bettpfannen mit je einem Sanitäter zur Verfügung. Das war ein harter Vollzeitjob, denn die meisten hatten Durchfall. Ich erinnere mich an einen Hilferuf: „Sani schnell – ich hab den Daumen drin!“ Wenn es auch tragisch war, so war dieses Ereignis ein wenig erheiternd. In meiner Drei-Bett - Sieben-Mann-Gemeinschaft war der Mittlere eben gestorben – ich bekam den freien Platz, mein Kopf war am Fußende, rechts und links je ein paar Beine. Dummerweise hatte ich noch Durchfall, und ich hasse Schieber.-

So blieb mir nur der mühselige Krabbelweg über das Fußende. Dort konnte ich mich festhalten und in die Hocke gehen, um die Büchsen „zu bedienen“. Ich schaffte diese Prozedur 4-5 mal pro Stunde. Es dürfte das 30. Mal gewesen sein, da kam ich zu spät. Ich bekam eine frische Leinenhose und einen besseren Platz in einem Zweier- Bett; das war eigentlich damals schon feudal. Für uns arme Würstchen war die medizinische Betreuung ein Glücksfall. Der Chefarzt war Zivilist und schon in der Zarenzeit als Facharzt für Lungenkrankheiten tätig gewesen. Er kam täglich (siebenmal die Woche!) vormittags und gegen Abend zur Visite, meist begleitet von einer russischen Stationsärztin, einem Gefangenenarzt, der auch als Dolmetscher diente, und einer echten Krankenschwester (in Uniform des DRK), die mit der Führung der Krankenblätter beschäftigt war und die wenigen Medikamente verteilte. Wir wurden also – obwohl Gefangene – sorgfältig (bei den geringen Mitteln, die zur Verfügung standen) behandelt. Trotzdem gab es auf dieser Station ständig Tote, an manchem Tag 2-3 Mann. Zweimal bin ich am Morgen neben einem schon kalten Bettnachbarn aufgewacht. Schlimm war auch, andere sterben zu sehen, ohne selbst helfen zu können. Das Traurigste war der Tod des kleinen Ungarn (16 Jahre) – ihn traf beim Mittagessen ein Blutsturz, d.h. er hat unstillbar Blut gehustet. Nun war ich im Saal der einzige MALINKI (Jugendliche) und wurde irgendwie mit besonderer Aufmerksamkeit betreut. Aber mit meiner Genesung wollte das nicht klappen.

In der Zwischenzeit hatte ich einen Malaria-Anfall, ich war an beiden Hüften und am Steißbein wundgelegen. Zur Heilung wurde ich zwei Wochen bäuchlings gelagert. Auch war zwischendurch die Lunge wieder krankgehustet. Dann bekam ich Schwierigkeiten beim Atmen – mein „Innenleben“ begann zu knarren, wie wenn man Leder aneinander reibt, ich hatte nun auch noch eine Rippfellentzündung. Da hatte sich allerhand in mir angesammelt. Mit dem Appetit ging es rasch abwärts, ich konnte nichts mehr behalten, erbrach mich sofort – sogar beim Trinken war das so. Das ständige Fieber tat sein Übriges dazu – ich weiß nicht, wie wenig Pfunde ich damals noch auf die Waage gebracht hätte, wäre ich gewogen worden. Die Ärzte hätten mich punktieren müssen, wagten es aber nicht wegen meines miserablen Allgemeinzustandes. Schließlich traute sich dann ein alter ungarischer Oberst-Arzt an die Sache; ich wurde rittlings auf das Bett gesetzt, rechts, links und vorne von Assistenten gestürzt und festgehalten, und dann holte der Oberst-Arzt mit einer dicken Nadel 3 l stinkender Brühe aus meinem Inneren.

Einer der Assistenten war ein deutscher Militärarzt, der Dr. Neumeyer (später Chef der Kinderklinik in W). Er hat mir später vieles von meiner Krankengeschichte erklärt. – Nach dieser Punktion hat der Druck in mir nachgelassen, aber ich konnte einfach nichts essen. Da hatte ich viele „Kameraden“, die bei der Essenausgabe an meinem Bett standen: „Du musst was essen – aber wenn Du nicht essen kannst, dann gib es mir!“ – Als ich später wieder essen konnte, waren alle meine „Mit-Esser“ verschwunden. –

Irgendwann hatte mein Körper seinen Tiefpunkt erreicht. Am 8. Mai 1946 – das Datum war mir durch die Sieges-Jahr-Feier der Russen genau in Erinnerung (man hörte von draußen den gewaltigen Chorgesang), an diesem 8. Mai ist offensichtlich mein innerer Widerstand zusammengebrochen. Vieles hat man mir hinterher erzählt. In den Nachmittagsstunden hat mein geplagtes Herz einfach den Dienst versagt. Mein Bettgenosse, ein Ungar, hat sofort den Arzt herbeigerufen, und der hat mich zurückgeholt, mit nassen Tüchern und Herzmassage. Ihm, diesem russischen Arzt, habe ich mein zweites Leben zu danken, und ich kenne nicht einmal seinen Namen. Am nächsten Morgen war er schon wieder bei seinem „MALINKI“. Um meinen Appetit wieder in Gang zu bringen, verordnete er mir „Individuale“, das bedeutete Wunschkost. Der Traum aller Kranken, aber er kam mir bei meiner Appetitlosigkeit gar nicht so recht zu Bewusstsein. Mein erster Wunsch = Quark (unterfränkischer Bibelskäs). Bei der Abend- Visite fragte der Doktor, ob ich meinen Quark gegessen und vertragen hätte. Da hatte ich noch nichts bekommen. Sofort wurde die verantwortliche KASAIKA (Küchenchefin) herbeigerufen und vom zornigen Arzt verdonnert. Sie musste sausen und mir ein Schüsselchen Quark bringen. Dem Arzt zuliebe wollte ich brav essen – aber schon nach drei Löffeln musste ich wieder erbrechen. Mit viel Geduld und richtiger Fleischbrühe sowie regelmäßigen Schleimsüppchen hat man dann meinen Appetit und den Magen „repariert“.

– Ich kenne auch den Namen der russischen Krankenschwester nicht, die in den ersten Nächten nach meinem Kollaps an meinem Bett saß, mir die Hand hielt und über den fiebrigen Kopf strich, die Lippen befeuchtete und den Schweiß von der Stirne wischte, mir, dem Feind, so als wäre sie meine Mutter. Ihr Sohn war im Zweiten Weltkrieg gefallen – der Mann im Ersten Weltkrieg. –

Wenn ich auch die Namen nicht weiß, so trage ich diese Menschen, die mir in meiner Not so viel Gutes getan, doch für immer im Herzen! – – –
Mit mir ging es jetzt – wenn auch sehr langsam – aufwärts. Aber irgendwas stimmte nicht, denn ich schien für die Ärzte ein Sonderfall zu sein. Als einziger im Raum wurde ich fast bei jeder Visite neben mein Bett gestellt, gestützt und sorgfältig abgeklopft, dabei auch mit dem Stethoskop abgehört. Ich wurde sogar einmal zum Röntgen in die Stadt gebracht, ein seltener Fall. Der deutsche Arzt, Dr. Neumeyer, erklärte mir, was da so interessant war: Die linke Lungenhälfte war durch die Rippenfellentzündung vollkommen verklebt und dadurch total stillgelegt.

Das war quasi ein natürlicher Pneu, und die beiden kirschgroßen Tuberkuloseherde waren dadurch im Wachstum gestoppt – Glück im Unglück! Erst nach Abschluss der Abheilung (im März 1948!) hat sich die Lunge wieder gelöst und mir beim Atmen geholfe

– Zurück auf mein Bett in URIOPINSK: Wenn es auch besser
ging, so hatte ich immer noch Fieber, wurde noch fünfmal punktiert; die russische Stationsärztin machte das recht gut. Einmal, in einem unbewachten Augenblick wollte es eine Hilfsschwester auch probieren. Sie schleuderte dem bäuchlings schon bereitliegenden Patienten die große Spritze mit Vehemenz nicht zwischen, sondern auf eine Rippe. Die Nadel brach, ich schrie und fluchte sehr laut, und die herbei geeignete Ärztin machte die Dumme zur Schnecke und befreite mich vom Schmerz. –

Etwa ab Mitte Juli begann man mit der Entlassung von Kranken. Dazu erschien jedes Mal eine Kommission von russischen Ärzten, um zu entscheiden, wer nach Hause durfte. Um ihnen zu ermöglichen, sich eine Vorstellung vom Zustand des Kranken zu gewinnen, musste man möglichst selbstständig auf unserem Flur ca. 20 m bis zum Untersuchungsraum gehen. Ich hatte aber nach acht Monaten Liegen das Laufen völlig verlernt. Zwei gehfähige Leidensgenossen haben mich untergehakt, aber ich schaffte es nicht über eine Türschwelle. Die Vorsitzende, eine untersetzte, schwarzhaarige Militärärztin sah mich an, warf einen Blick auf mein Krankenblatt, schaute kurz zu ihren Assistenten, und dann kam das Urteil „NIET“ – ich durfte nicht heim! –

Ich habe geheult und wurde zurück zu meinem Bett geschleppt. Dreimal erging es mir so; ich war zu schwach, konnte kaum stehen und laufen. Erst Ende September war ich soweit auf den Beinen und konnte nach fleißigem Üben wieder ganz gut laufen. Jetzt war die Kommission mit mir zufrieden. Die Ärztin war eine Jüdin, hatte in Deutschland studiert und erklärte mir freundlich lächelnd in akzentfreiem Deutsch: “Jetzt - MALINKI- jetzt kann ich dich entlassen, hätte ich es früher getan, hättest du in deinem Zustand die Heimat kaum lebend erreicht!“ Ich habe auch jetzt geheult, aber jetzt waren es Freudentränen, denn die Hoffnung auf die Heimkehr war nun wahr geworden. –

532 Tage und Nächte war ich Kriegsgefangener in Russland. Mehr als die Hälfte davon war ich schwer krank – fünf Krankheiten, die ich durchgemacht habe, haben viele um mich herum mit dem Tode bezahlt – Malaria – Ruhr – Typhus – Lungen-Rippenfellentzündung – Tuberkulose –. Von 80 kg Gewicht war ich auf Dystrophie III (Auszehrung) abgemagert, nach meiner Heimkehr hatte ich immerhin schon wieder 43 kg.
In all dieser Zeit hatte ich Heimweh, aber trotz Ängsten, weil der Tod um mich herum ständig zugegen war, habe ich die Hoffnung auf die Heimkehr nie aufgegeben, auch wenn die Zweifel im Hintergrund lauerten. – Diese 18 Monate erscheinen mir auch heute noch wie viele, lange Jahre. –

Ich habe versucht, einen Teil des Erlebten zu schildern. Es bleibt lückenhaft und kann nicht annähernd das wiedergeben, was ich damals fühlte. Mag sein, dass ich irgendwann diese Erinnerungen ergänze, falls mir Zeit dazu bleibt. – In dieser Zeit habe ich aber auch vieles erkennen und lernen dürfen. So werde ich stets Dank empfinden für die Menschlichkeit, der ich bei den russischen „Feinden“ begegnet bin – die doch selbst in eigener Not und Armut noch ein Herz für uns hatten.

Die Zeit hat viele Wunden geheilt,
doch stets sind Narben verblieben. –
Wo immer Erinnerung uns ereilt,
ist sie im Herzen festgeschrieben!
H. F.