Inzwischen war ich in ein Lager im Stadtkern verlegt worden. Die Ruinen einer großen Mühle an der ZARITZA. Ein großer Saal im ersten OG war unser „Schlafraum“. Doppelpritschen ohne Stroh oder Decken. Wir lagen wie Sardinen, Umdrehen ging nur im ganzen – auf Kommando. Wenn man vom „Pinkeln“ zurückkam, musste man sich in die inzwischen geschlossene Lücke hineinzwängen. Einziger Vorteil – man hat nicht gefroren. Den Läusen war das Gedränge auch recht. Wenn das Gekrabbel gar zu lästig wurde, dann konnte man am Vorplatz das Hemd umdrehen und in den überbevölkerten Nähten Läuse „knacken“. – An diesem Vorplatz stand auch der „Pisskübel“. Das war ein halbes Fass mit etwa 80 cm Durchmesser und Höhe. Durch die Mitte war ein Eisenrohr gesteckt als Tragevorrichtung. Mehrmals in der Nacht war der Kübel voll und musste eine steile Treppe hinab zum Klo im Hof geschleppt und entleert werden.
Das „Piss – Kommando“ war gefürchtet, weil halsbrecherisch. Zweimal hat mich das Los getroffen. – Die Nachtruhe wurde oft durch schikanöse Zählappelle gestört “PROWKAI“ alle mussten in Fünferreihen im Hof antreten, dann wurde gezählt. Vermutlich waren die mathematischen Kenntnisse unserer Bewacher nicht sehr groß, denn an der Ruinenwand war das Einmal eins mit fünf aufgemalt.
Oft dauerten diese Zählungen stundenlang, und wir mussten ohne zu muxen stehen, frieren und bei Regen nass werden. Das Zählkommando hingegen verschwand dabei immer mal in der NKWD-Baracke zum Aufwärmen.
Von diesem Lager aus gingen die Arbeitsgruppen meist in die Ruinen, um Backsteine zu putzen. Ich hatte mich wieder einmal als Spezialist gemeldet – als Dachdecker. Mit der schon wieder fahrenden Straßenbahn ging die Reise durch die Trümmerstadt nordwärts zur Fabrik“ Roter Oktober“. Dort waren mehrere Hallen wieder aufgebaut, und nun mussten die Flachdächer abgedichtet werden. Die „Dachdecker-Kolonne“ trug hierzu von großen Bitumenkesseln heißflüssigen, stinkenden Bitumen auf die Dächer. An einem Tragholz die zwei Eimer über schräge Bretterbrücken tragen, oben auskippen und zurück zum Kessel. Die Bretter schwankten bedenklich, aber es ist zum Glück nichts passiert – das Zeug war etwa 250° C heiß. Wir waren wie zerschlagen und froh, dass nach drei Tagen die Arbeit zu Ende war. – Einmal im Oktober mussten wir sonntags (für uns war immer Werktag) zum Güterbahnhof- ein Zug mit Klavieren und Konzertflügeln (Beuteware) musste entladen werden. An diesem Tag war plötzlich der Sommer zu Ende.
Eben noch Spätsommer-Sonne, zogen plötzlich dunkle Wolken auf, und ein kalter Wind trieb uns Graupel und Schnee entgegen. Das war auch unseren Bewachern unangenehm, und so trieben sie uns beim Entladen zur Eile an. So fielen die Beute-Instrumente förmlich aus den Waggons und zerbarsten auf dem Bahngelände. Auf diesen geklauten Beute-Klavieren hat wohl niemand mehr musiziert. Wir eilten frierend, aber irgendwie doch befriedigt zurück ins Lager. In der Steppe um Stalingrad aber hatte sich direkt nach dem Sommer der Winter angekündigt. –
Jetzt ging es zumeist in die Ruinen zum Backsteineklopfen. Anfang Dezember zeigte das Thermometer an der NKWD-Baracke - 38° C. Die Russen aber ließen uns wissen, dass dies ein „milder Winter“ sei, und schickten uns „in die Backsteine“. Diese zerfielen schon beim Versuch zu klopfen in kleine Splitter. Unser Wachposten – ein alter Veteran aus der Mongolei - hatte außer Bart und Schlitzaugen ein gutes Herz. Er verteilte rundum Wächter und ließ uns dann Brennholz sammeln, und dann durften wir uns am Feuer wärmen. Wir „entschädigten“ ihn mit Tabak – von dem wir ziemlich regelmäßig eine Zuteilung bekamen (vielleicht sollte das Rauchen den Hunger und das Heimweh dämpfen). Unser Wächter kannte weder Russisch noch Deutsch, aber er zeigte uns ein altes, kleines vergilbtes Foto mit seiner Frau und vier Kindern; das war seine Familie. Er machte uns durch Zeichensprache verständlich, dass er seit sechs Jahren nicht mehr zu Hause war. Unser Heimweh kam uns da fast unbedeutend vor. Als wir am frühen Nachmittag ins Lager zurücktrotteten, waren an unserer Arbeitsstätte nur wenig brauchbare Backsteine, aber ein großer Haufen Steinsplitter und eine noch glimmende Feuerstelle zu finden. –
Unsere Mühle an der ZARITZA hatte außer dem großen Schlafsaal noch Räume für Küche und Essenausgabe. Letztere hatte eine Betondecke mit breiten Stahlträgern. Dort sausten während der Essenausgabe dicke, karnickelgroße Ratten entlang. Jeder bekam einen Schlag Suppe, z. B. Fischsuppe. Hatte man Glück, fand man in der Brühe ein paar Fetzen Fisch, hatte man Pech, fand man nur noch die Gräten. Die Portion Kascha war zumeist ein dünner Brei aus ungeschälter Hirse, manchmal aus gefrorenen Kartoffeln oder Rüben und selten – und das waren Festtage – ein ordentlicher Brei aus Buchweizen. Die Gruppe zählte 20 Mann. Aber bei 20 Portionen Brot (a 400 g) kam es öfter vor, dass am Ende ein bis zwei Stücke fehlten. Jeder Gruppe wurde ein Salzfisch kunstvoll in Stückchen verteilt. –
Einen Waschraum gab es nicht, nur ein paar Zapfstellen, aus denen im Glücksfall Wasser kam, meist rostiges. In der Hofecke war eine kleine BANJA-Baracke, dort war etwa alle vier Wochen „Waschtag“ für Körper und Klamotten, ein Entlausungsbunker nebenan zum „Läusebraten“. –
In der gegenüberliegenden Ecke war die sogenannte Ubornaja, das Klo. An der Längswand war eine hohe Stufe betoniert mit 8 Löchern. Um seine Geschäfte zu erledigen, musste man aufsteigen und mit heruntergelassener Hose in die Hocke gehen. Oft waren alle Plätze belegt – oft hatten die Benutzer das Zielloch verfehlt – oft kam man nicht mehr aus der Hocke hoch, und manches Mal fiel ein Toter von der Stufe. Mit Hygiene war nix los. Der Raum wurde auch als Leichenraum genutzt. Alle Toten wurden dort gestapelt, anderntags auf einen Lkw geschichtet und weggefahren. Das Begleitkommando berichtete, dass, speziell im Winter, die freie Steppe der Friedhof war. –
m Lager gab es auch ein Krankenrevier, mehrere kleine Abteilungen mit einer Isolier- Station für ansteckende Krankheiten. Ein deutscher Gefangenenarzt versuchte so gut es ging, die Kranken zu versorgen. Im Dezember 45 hielt ich dort Einzug. –
Diagnose RUHR – die rote RUHR – Fieber, Dauerdurchfall (Schleim und Blut), Appetitlosigkeit, Leibschmerzen und ein sehr schlechter Allgemeinzustand. – Ein halbes Jahr hatte aus einem strammen Jüngling (kurz vor Kriegsende brachte ich noch 80 Kilo auf die Waage) ein krankes Häufchen Elend gemacht. Schwere Arbeit, kaum Ruhezeiten, viel zu wenig zu trinken, eine wenig nahrhafte und viel zu knappe Kost, Ungezieferplage, keine Hygiene, schlechte Kleidung, mangelhafte Reinhaltung und schwindende Gesundheit – Lauskrätze, offene Beine, Durchfall, Malaria, Avitaminosen, Fieber und starker, rasanter Gewichtsverlust – für Arbeitseinsatz nicht mehr zu gebrauchen, war ich nun im Revier gelandet. Ich lag auf der oberen Etage einer Holz-Doppelpritsche. Nur mit Mühe schaffte ich den Abstieg zu meinem Konservenbüchsen-Klosett!) Und die RUHR trieb mich in kurzen Zeitabständen dorthin. Zum Pinkeln diente eine kleinere Dose. Zum Aufstieg musste mir ein „Revier-Sani“ helfen. Mein „Bett“ bestand aus blanken Brettern. Meine Bettdecke war mein verlauster Mantel, und mein alter Brotbeutel war das Kopfkissen. Zweimal am Tag und einmal während der Nacht kam der deutsche Arzt. Man versuchte zu helfen – ich musste Kohle (Knochenkohle gemahlen) essen und bitteren, heißem Tee trinken. Meist lag ich apathisch da und träumte von zu Hause (Heimweh!).