Im Süden der Stadt ragten die Türme des Silos in den Himmel. Ganz in der Nähe war unser Abstellgleis. Die Türen rollten auf, und wir wurden mit „dawei – dawei!“ zum Aussteigen getrieben. Beim Herunterspringen versagten uns die steif gewordenen Kniee den Dienst. Wir sahen ausnahmslos miserabel aus, als wir uns in Fünferreihen (die Russen nutzten beim Zählen das Einmaleins mit fünf) zum etwa 500 m entfernten Lagertor hin bewegten. Dort mussten wir uns ausziehen. Die Klamotten kamen zur Entlausung. Wir durften in die BANJA, jeder bekam ein  holzschachtelgroßes Stück Seife, respektive Schmierseife – die Dusche war kalt, aber nach so langer Zeit ein Fest. – Inzwischen kamen die entlausten Klamotten aus dem Backofen, manches Teil war leider versengt, aber die „kleinen Freunde“ waren offensichtlich geröstet…

Nachdem unsere kleinen Habseligkeiten noch einmal gefilzt worden waren, ging es durch's Lagertor. Man wurde aufgeschrieben und auf Lagerblöcke verteilt. Ich hatte Glück, denn der deutsche Lagerarzt hat mich, ich hörte es zum ersten Mal, als "Malinki" (d.i.Kleiner) bezeichnet. Ich war zwar schon 18 Jahre und zwei Monate, aber inzwischen „schlank“ und kahl geschoren…

Mein Dienst in der Seuchenbaracke war nicht einfach: Schwerkranke waschen, Schieber entleeren und desinfizieren (es gab Chlor und Lysol). Einmal musste ich in der isolierten Stube drei Nächte lang einen Typhus-Patienten versorgen. Der Ärmste ließ alles unter sich, manchmal im Abstand von 20 Minuten. Die Unterlagen der Kranken wurden gereinigt – ich selbst habe mich sorgfältig mit Lysol gewaschen. So ging es drei Nächte, dann endlich war der Kranke von seinem Leid erlöst. Ich durfte lange ausschlafen und hatte mich zum Glück nicht angesteckt. Ein halbes Jahr später habe ich aber selbst Typhus bekommen. Mein „Chefarzt“ war ein echter Stalingrad-Veteran (von der Sechsten Armee haben etwa 5000 überlebt)…

Der Steppensommer war heiß und trocken, die Wolga floss dicht am Lager vorbei. Unser Lagerarzt überredete die Wachposten, dass wir in Gruppen am Ufer baden konnten. Das kühlte zwar, aber ich musste vorsichtig sein, ich hatte offene Beine – Lauskrätze. – Es dauerte vier Wochen, bis wir Ichtyol-Salbe bekamen. Dann heilte es rasch –eiterte und juckte nicht mehr… Die Nähe des Stroms bescherte uns leider auch Schwärme von Stechmücken. „Hütet euch vor der Anopheles – deren Stich könnte Malaria auslösen!“… Ich erinnere mich noch an eine Sonnenfinsternis. Wir konnten sie mit rußgeschwärzten Glasscherben beobachten… Früher glaubten die Menschen, dass solche Naturereignisse Unheil bedeuten – es schien zu stimmen, denn ich wurde mit meinem Doktor und vielen Leidensgenossen in ein neues Lager verlegt. Flussaufwärts war ein großer, alter Wolga- Frachter am Ufer verankert. Im Halbkreis war der Platz mit Stacheldrahtzaun abgegrenzt. Ein breiter Brettersteg war der Zugang zum Schiff. Stromaufwärts ragte die UBORNAJA – das Klo über Bord. Am anderen Schiffsende war die Küche. Dort holte man mit Seil und Eimer das benötigte Wasser zum Kochen – hygienisch verrückt….