Einmal Stalingrad – hin und zurück

8./9. Mai 1945 – mit einem Mal schien alles verändert – der große Krieg war zu Ende. Wir durften laut Herrn Feldmarschall Schörner erst am 9. Mai die Waffen strecken, schließlich musste meine Einheit als Nachhut den Rückzug der anderen sichern…

Die Russen hatten schon in der Nacht auf der ganzen Front mit Leuchtspurmunition und Signalraketen ein gewaltiges Sieges-Feuerwerk in den Himmel gejagt. Wir marschierten ein letztes Mal von unserer Verteidigungsstellung zurück zu unseren LKW‘s – der ehemalige Feind ließ uns unbehelligt ziehen…

Da hatten wir nun für ein Vaterland unser junges Leben eingesetzt. Viel zu viele waren gefallen oder waren verstümmelt worden, für ein Vaterland, das uns schon bald als unwürdig, von Verbrechern missbraucht, offenbart werden sollte…

Zunächst fühlte ich mich unsicher, ausgebrannt und unendlich erschöpft. Viele Kameraden gab es nicht mehr – ich war heil davongekommen. Doch was sollte nun werden, wir waren noch weit in Feindesland, in OLMÜTZ in Mähren.

Unser Lkw-Fahrer, ein Nürnberger, hatte ausreichend Sprit und Verpflegung getankt. Rasch keimte in uns die Hoffnung, bald die Heimat und unsere Lieben wieder zu sehen. Fröhlich setzten wir uns in Bewegung, westwärts! Befreiten uns vom Ballast, zerlegten unsere Sturmkarabiner und warfen die Teile samt Munition, Handgranaten rechts und links aus dem fahrenden Lkw in die Felder. Wie kamen ganz gut voran, aber gegen Abend wurde der Verkehr immer dichter und langsamer. Wir mussten ganz rechts bleiben und wurden nun von endlosen Kolonnen – Lkw, Jeeps.…., Panzern und Panjewagen überrollt: Die Russen waren da!

Am Ortsrand von Deutschbrod war es dann aus. "Stoi! Dawai" - wir mussten alle vom Wagen und wurden von den Siegern gefilzt, Uhren, Ringe, Pistolen und Sonstiges wechselten die Besitzer. Ich habe meine Armbanduhr noch schnell an der Wagenkante unbrauchbar gemacht.

Statt bald die Heimat zu sehen, war ich nun wie Zigtausende ein „WIOYNA PIANNI“ – Im großen Durcheinander hatte ich meine Gruppe verloren und war jetzt inmitten der Masse der Gefangenen alleine, verlassen, besitz-und hoffnungslos….

Die erste Nacht als „BM“ verbrachte ich – verbrachten wir auf dem Kopfsteinpflaster einer Straße in Deutschbrod. Mein Brotbeutel war mein Kissen, mein Mantel die Decke. Der Straßenrand diente als Toilette für alle. Unter meinem Kopf tickte zwischen zwei Pflastersteinen meine goldene Armbanduhr, ich habe sie ausgegraben und versteckte sie im Socken. Etwa 200 km bin ich damit marschiert – von Deutschbrod über IGLAU nach BRÜNN. Es brachte mir Schmerzen, Blasen, aber auch zwei Leib Brot ein…

Der Marsch nach BRÜNN war eine schier endlose Kolonne von Jammergestalten – nichts mehr von preußischem Schritt – ohne Verpflegung, ich fand am Wegrand zum Glück eine Handvoll Weizenkörner, und Wasser gab es am Bach oder aus Pfützen. Sieben Tage trotteten wir dahin; böse Tschechen schimpften, spuckten und warfen manchmal auch Steine. Manchem zogen die Sieger die guten Schaftstiefel aus – sie mussten barfuß weiter. Ich blieb mit nagelneuen nagelbeschlagenen Gebirgsstiefeln unbehelligt – die waren offensichtlich zu schwer.

Ruhepausen, im Straßengraben oder wo man gerade stand, gab es zum Glück ausreichend. In der Nacht wachten verstärkte Posten – aber zur Flucht fehlte es an Kraft.

Endlich waren wir in BRÜNN. Vor der Veterinär-Kaserne, auf einer Wiese mit Obstbäumen wurden wir zunächst „gelagert“ – 20.000 – 30.000 oder mehr. Es war der 19. Mai, und wir hatten seit zehn Tagen keine Verpflegung, kein Wasser. Für letzteres hatte man einen Viehtränkewagen abgestellt. Zu futtern gab es nichts. Die Blätter von den Bäumen wurden quasi als Spinat verspeist – es gab bald nur noch kahle Äste zu sehen. Meine goldene Uhr habe ich am Wiesenrand gegen zwei Laib Brot verscheuert. Plötzlich hatte ich viele „Kameraden“ und kein Brot mehr – am vierten Tag trieb ein Russe einen alten Klepper vorüber. Irgendwer hat den Russen überredet, der hat den alten Gaul erschossen. Kaum lag das Tier am Boden, da stürzten sich die Hungrigen mit Taschenmessern auf den Pferdekadaver. Hunger tut weh… (Da wird selbst Pferdefleisch zu einer Delikatesse!)

Nach einer Woche Wiese wurden wir dann in der Kaserne einquartiert. Ich kam in einen Raum im Erdgeschoss, mit 29 Mann auf etwa 5 × 4 m. Wir einigten uns auf eine Sitz – und Liege-Ordnung. Am zweiten Tag hatten wir ein Glückserlebnis. Direkt vor unserem Fenster hielt ein Lkw.

Der Duft von frischem Brot machte uns hellwach. Irgendwoher war da plötzlich ein Besenstiel. Das Ende wurde zugespitzt, die Wagenplane zur Seite geschoben, und es gelang uns, sechs Kommisbrote herauszufischen – dann fuhr der Lkw leider weg. In unserer Stube war der Hunger schnell gestillt, aber das frische Brot auf die leeren Mägen machte manchem Kummer. Der Wachposten draußen im Flur wusste aber nicht, warum aus unserem Raum die Besuche am Klo so zunahmen. –

Am dritten Tag gab es dann Tee, Suppe und Brot – es ging aufwärts. Am vierten Tag wurden wir in einen Hörsaal geführt. Eine russische Offizierin hielt in absolut freiem Deutsch einen Vortrag über die Verbrechen der deutschen Soldaten in Russland. Unter anderem hätten wir Läuse, Flöhe und Wanzen dort eingeschleppt und Geschlechtskrankheiten – einige lachten, sie wurden aus der Menge geholt und wurden nicht mehr gesehen. –

Bei diesem Vorfall habe ich zum ersten Mal von den Gräueltaten in Konzentrationslagern gehört. Man zeigte zum Beweis viele schreckliche Bilder – ich wollte das nicht glauben. Hatten wir für solche Verbrecher unser Leben eingesetzt? – – –
Am fünften Tag wurden wir im Garten hinter der Kaserne von einer „Kommission“ untersucht – alle splitternackt und anschließend am ganzen Körper kahl rasiert – ohne Seife und mit einem einzigen Messer. Dann durften wir uns zum ersten Mal mit blankem, kaltem Wasser waschen. Handtücher gab es nicht, und wir schlüpften nass in die alten und stinkenden Klamotten. Mit dem Wenigen, das wir noch besaßen (Mantel, Brotbeutel, Portemonaie, Trinkbecher und Kleinigkeiten, Fotos, Zigarettenpapier war mein Reichtum) setzte man uns in Marsch – Richtung Güterbahnhof…

Wir waren je Güterwagen 80 Mann. Auf beiden Seiten der Schiebetüren waren auf halber Höhe Bretterböden. -Stroh gab es nicht. Im Mittelfeld war ein Loch im Boden mit einem scharfkantigen Blechtrichter, das Klo für 80 Mann.
Da war es fast ein Glücksfall, dass wir kaum etwas zu knabbern und wenig zu trinken bekamen. Jeden zweiten oder dritten Tag eine Hand voll „Trockenbrot“ und einmal täglich einen Becher mit warmem Wasser vom Lokomotiv-Tender. Ich hatte oben einen Platz am Gitterfenster erwischt und einen netten Nachbarn. Der hatte reichlich Tabak, und ich hatte reichlich Zigarettenpapier.

ch habe die Tage und Wochen dieser Reise nach dem Osten nicht gezählt. Wenn ich aus dem Fenster blickte, sah ich Felder und Wälder vorüberziehen. Manchmal stand unser Zug irgendwo. Dann durften wir uns waggonweise die Beine vertreten oder unsere Notdürfte verrichten. Irgendwann gingen einer stiften. – Die Folge war stundenlanges Zählen und ab da eine „Aussteigesperre“ – in Budapest am Bahnhof, als unser Zug anhielt, haben dann unsere Bewacher einfach einen jungen Ungarn (15 Jahre!) von seiner Mutter weggenommen und damit die Sollzahl wieder hergestellt…
In FOCSANY, am Rande der Karpaten, wurde eine zweitägige Pause eingelegt. Wir bekamen warme Suppe, durften uns waschen und unsere Klamotten reinigen. Dann ging die Reise weiter – auf der breiteren russischen Gleisspur – durch das Gebirge zum Schwarzen Meer an Odessa vorbei, immer weiter nach Osten, immer weiter weg von der Heimat. Das Heimweh nagte am Herzen – der Hunger nagte am Magen und der Durst....


Wenn ich durch mein Wagenfenster hinausschaute, sah ich nur endlose Weiten und die Spuren des Krieges, ausgebrannte Panzer, Kanonen und manchmal auch die Ruinen von Dörfern und Städten…

Nach rund vier Wochen erreichte unser Zug sein Ziel, Stalingrad – ein Trümmerhaufen entlang der Wolga…