1. Mail, 15.4.2004, Vorbereitungen, Thrakien und Makedonien
Liebe M!
Ursprünglich war mein Plan, das Mittelmeer zu umrunden. "Parallia" hieß die Parole: "exakt an der Küste entlang" sollte der Weg gehen. Ich wollte das Festland, nicht die wunderschönen und reichen Inseln kennenlernen. Das Festland lebt über weite Strecken wirtschaftlich nicht in den besten Verhältnissen.
Geplant war, meine Reise in Konstantinopel zu beginnen, der tausendjährigen Hauptstadt eines halben Weltreiches, der Stadt am Ursprung Europas. Im Laufe der Vorbereitung wurden die Pläne vernünftiger und kleiner.
War doch Konstantinopel vor 500 Jahren für Europa weggebrochen. Ein kleines Wunder, dass die Türkei heute versucht, den Graben zu überspannen und Anschluss an die EU zu suchen. Leider kein Wunder, dass Gegenkräfte diese Entwicklung mit Terror aufhalten wollen.Wegen der Bombenattentate war mir (verständlicherweise) der Reisebeginn in Konstantinopel verleitet.
Also starte ich an der griechisch/türkischen Grenze, nahe dem Naturparadies "Evros", in der recht großen Stadt Thrakiens:
Alexandroupolis
Die Sprache fällt mir ganz schön schwer. Ich darf niemandem erzählen, wie viele Jahre ich Altgriechisch gelernt habe. Zwar sind den meisten von uns griechische Fremdwörter bekannt, von Hybris bis zum Parallelogramm, aber damit kommt man im Alltagsleben nicht allzu weit. Im Flugzeug wollte ich z.B. ein Wasser bestellen: "Hydor" kennt man im Griechenland unserer Tage nicht mehr. Nie was von einem Hydranten gehört? Also: Wasser heißt Nero, was niemand versteht, wenn nicht die letzte Silbe betont wird: Neró. Natürlich kann man aufs englische oder deutsche ausweichen - wie peinlich für einen Philhellenen!
Später dazu ein paar wenige Regeln für den Anfänger von einem Anfänger. Warum gelingt es den Griechen so sparsam mit 24 Buchstaben auszukommen? Und trotzdem leisten sie sich den Luxus mit dem überflüssigen psi, mit den 2 o (Omega und Omikron) und mit den 2 t (Theta und tau).
Es ist schon phantastisch, dass man in Griechenland auf einem Computer schreiben kann und mit der Welt in Verbindung steht. "Apotheke" heißt speichern. Endlich mal ein Wort, was man nützlich verwenden kann.
< Vor 6 Jahren beschrieb ich in epischer Breite die Besonderheiten sämtlicher Computer. Das lässt mich 2010 völlig kalt; man stellt sich um auf eine andere Tastatur>
Ich habe mich immer gewundert, wie die alten Griechen manche mathematische Definitionen gefunden haben, z.B. Parallel. Es war und ist nicht so grenzenlos abstrakt. Es heißt einfach "paralia", der Küste entlang. Die Grenze von Meer und Festland ist eine Linie. Sie muss festgelegt sein, weil hier die Herrschaft des Zeus endet und die des Poseidon beginnt. Egal ob ich der Küste entlang gehe oder entlang segle, in beiden Fällen versuche ich, eine Linie zu beschreiben, die immer einen bestimmten Abstand zur Küste hat. Das ist "parallel". Also "Parallel" ist eine gut Überschrift über meine ganze Fahrt.
Parallel, - im engen Sinne - an der Küste entlang.
Geographie Nordgriechenlands in Kurzform(Mir jedenfalls ist sie zuerst schwer gefallen).
Zwischen Griechenland und der Türkei liegt das Ägäische Meer. Griechenland befindet sich nicht nur im Westen dieses Meeres, sondern auch im Norden!
Diese Nordküste interessiert mich. Wenn man sie etwas begradigt, sind es immerhin noch 380 km von der griechisch/türkischen Grenze (dem Flussdelta des Evros) im Osten bis zur zweitgrößten Stadt Griechenlands: Thessaloniki im Westen.
Noch weiter östlich, jenseits des Flusses Evros, liegt der europäische Teil der Türkei. Folgte man weiter der Route über den Bosporus (=Ochsenfurt) hätte man Kleinasien erreicht. ("Was ist der Unterschied zwischen Kleinasien und Anatolien? Es ist dasselbe!").
"Meine" griechische Seite der Nordküste wartet sogar mit dem Luxus einer Eisenbahnlinie auf! Diese stammt noch aus türkischer Zeit, folgt westlich von Xanthi - ein Stück weit - der Schlucht des Nestos und entspricht, zumindest im östlichen Teil, dem klassischen Orient-Express nach Istanbul. Ob die Eisenbahn mehr ins Landesinnere (weg von der Küste) gebaut wurde, um sie vor lauernden Seeräubern zu schützen?
Die beiden griechischen Provinzen, die diese Nordküste bilden, sind Thrakien im Osten und Makedonien im Westen.
Thrakien ist eine große Ebene zwischen dem Meer und dem mächtigen Rhodopen-Gebirge, das den Übergang zu Bulgarien bildet. Abwechslungsreich stellt sich die Landschaft zwischen Wasser und Bergen dar: weite Tabak- und Baumwollfelder, Ziegenherden auf satten Weiden und unendlich viele Vögel auf der Reise gen Süden. Mir fällt ein Storch auf: Bewusst (?) verschmäht er die vielen einladenden Bäume – er macht es sich lieber auf einem Telegraphenmast bequem!
Zahlreiche Flüsse, dem Rhodopen-Massiv entsprungen, sind für die Fruchtbarkeit des Landes verantwortlich und so schön sie anmuten – mir und meinem "Küstenprojekt" kommen sie meist ungelegen. Muss ich doch manch größeres (das des Nestor) und manch kleineres Flussdelta großräumig umfahren.
Gewundert habe ich mich über die Berge Griechenlands, die eines gemeinsam haben: Sie sind hoch! Für mich ausnahmslos hoch! Da der Betrachter mit den Augen seines Heimatlandes sieht, misst er, vergleicht, wägt ab und stellt missmutig fest, dass die Neukirchener Höhe im Odenwald den griechischen Bergen nichts entgegen zu setzen hat: Makedonien spannt sich vom nördlichen Küstenteil, bis weit in den Westen hinüber nach Epirus, genauer gesagt zum westlichsten, an der Adria gelegenen Teil Nordgriechenlands. Korrekterweise nennt man diesen Meeresteil - südlich an die Adria grenzend- das Ionische Meer, wichtiger Zugang für alle, die in Bulgarien keine Mafia-Gebühren zahlen wollen.
Der Athos überschreitet - 1 bis 2 km vom Meer entfernt - die 2000m Grenze, der Olymp gar macht der Zugspitze problemlos Konkurrenz. Makedonien spannt sich vom nördlichen Küstenteil, bis weit in den Westen hinüber nach Epirus, genauer gesagt zum westlichsten, an der Adria gelegenen Teil Nordgriechenlands.
Im Norden grenzt Epirus an Albanien, dessen Grenzübergänge heute (2004) noch spärlich und ungenutzt sind.
< 2010 hört man Widersprüchliches über Albanien. Die Berichte über eine gänzlich fehlende Rechtsordnung werden seltener; dagegen wird die Freundlichkeit der Menschen ausdrücklich hervorgehoben. Als Durchreiseland ist Albanien aber unverändert nicht geeignet.
Zurück zur Küste von Thrakien und Makedonien: sie ist nicht ebenmäßig glatt, sie hat Struktur. Genau wie die zwei meerumspülten, vor der Küste Thrakiens liegenden Felsbrocken, die vom Festland aus, wie zur Orientierung, von überall zu sehen sind:
die Inseln Thassos und Samothraki.
Jeder, der durch Griechenlanf fährt, fragt sich, wieso gerade im "alten Griechenland" so viele Dinge entdeckt wurden. Z.B. die Trigonometrie:
Thales hatte vor 2600 Jahren die Idee, ein Dreieck zu verallgemeinern, es zu konstruieren, auch wenn nur begrenzte Informationen vorhanden sind.
Wenn man zwei Inseln sieht und als Seefahrer beobachtet, wie sich der Winkel zwischen beiden ändert, versteht man, dass die Besonderheiten der Natur beim Erkennen der Gesetzmäßigkeit hilfreich waren. Die Griechen kapierten, dass der Beobachter sozusagen eine dritte Insel ist. Und sie erkannten, dass es nicht nur möglich sondern auch nützlich ist, diese Regeln zu verstehen.
Den makedonischen Teil der Nordküste zeichnen die drei auffälligen, charakteristischen Finger der Halbinsel Chalkidike aus.
Von Ost nach Westen sind es
die autonome Mönchsrepublik Athos /Heiliger Berg (Ajion Oros)
die malerische, noch wenig erschlossene Sithonia und
die touristisch eroberte und auch bei Griechen beliebte Kassandra.
Im Reiseführer heißt es:
Bei gutem Wetter kann man an einem bestimmten Ort den "Heiligen Berg Athos" sehen, Das ist so nicht richtig. Man kann von (fast) überall diesen spektakulären Riesen erkennen. Sogar von Alexandroupolis.
Literatur
Bevor ich nun mit der Beschreibung meines Weges beginne, möchte ich noch ein paar Anregungen zu Literatur und Reiseführern los werden.
Wen es weniger interessiert, der kann zum Reisebeginn weiterblättern. Vor meiner Fahrt habe ich auch die klassische Vorbereitung gewählt.
1. Kurz mal wieder bei Homer reingelesen. Seine Beschreibung des Besuchs beim Sauhirten (hieß er Eumaios?) - einfach großartig! Und erst die Peinlichkeit, als die Königstochter den schiffsbrüchigen, nackten Odysseus findet und alles mit Klugheit arrangiert„….
2. Etwas genauer habe ich in den Herodot geschaut. Er bleibt der unübertroffene Reise-Berichterstatter. Es gibt (für vieles) keine besseren Beschreibungen. „….
3. Tukydides sprengt alles an Modernität. Er sagt den Verlauf der Geschichte voraus – für mich erschreckend und viel zu pessimistisch.
4. Nikos Themelis "Jenseits von Epirus" – auf diesen Roman unserer Tage komme ich noch zu sprechen.
5. Polyglott-Reiseführer: Man muss ihn haben, kommt nicht drumherum, aber irgendwie reicht die Information nicht aus. Zu wenige Strecken-Beschreibungen und einfach nicht ausführlich genug.
6. Unterwegs habe ich Amerikanische Mitreisende ausgerüstet mit dem "Lonely Planet Greece" getroffen: ein ausführliches Buch mit vielen Meinungen, Ideen und Anregungen. Sollte man studieren.
7. Dann habe ich noch den Reiseführer für Wohnmobile von D gelesen, obwohl ich (nur) mit einem Renault Twingo unterwegs war. Trotzdem empfehlenswert. Hier wird Griechenland zunächst mit dem Blick auf die Wasser-Zapfsäulen betrachtet; es folgen weitere, sehr genaue und wahrheitsgetreue Beobachtungen. Dazu, wenn auch nicht sehr ausführlich, Kultur und Geschichte des Landes.
8. Dumont: Griechisches Festland. Ausführliches, sehr gediegenes, gut recherchiertes Buch, schließt an an das Niveau der englischen Literatur
8. Das Werk von Elisabeth Mann-Borgese ist groß. Es ist informativ irgendwas davon kennenzulernen. Es geht um das Meer als ein Spiegel der menschlichen Zivilisation. Hier werden wichtige Probleme durchdacht, auf die man zwangsläufig stößt, wenn man sich mit Tourismus, Industrie und Meeresküste befasst.
Dies alles hat mich dazu bewogen und inspiriert Euch daheimgebliebenen meine Mail zu schreiben und dabei ein bisschen mehr, als üblich, in die Tiefe zu gehen.